Green Deal in Gefahr

Das EU-Parlament hat am 22. November 2023 den Vorschlag für die Pestizidverordnung (SUR) abgelehnt. Als Herzstück der Farm-to-Fork-Strategie sollte darin die Reduktion chemisch-synthetischer Pestizide um 50 Prozent erstmals rechtlich verankert werden. Die Berichterstatterin zur SUR im Umweltausschuss, Grünenpolitikerin Sarah Wiener, sprach von einem „schwarzen Tag für die Umwelt und für die Befreiung der Landwirtinnen und Landwirte von der Agroindustrie“.

Bitteres Trostpflaster: Am Ende hatten Agrarlobby und konservative Kräfte den Verordnungsentwurf ohnehin „fast bis zur Unkenntlichkeit zerlöchert“, sodass damit letztendlich die Ziele der SUR kaum hätten erfüllt werden können. Einen aktuellen Kommentar findet auf der Seite von PAN Europe.


Faktensammlung zur SUR

Trotz klarer Faktenlage, die eine ambitionierte SUR unbedingt erforderlich machen, verhindern konservative Politiker*innen und die Agrarlobby ihren Beschluss. Die häufigsten Kritikpunkte haben wir hier entkräftet: 

Die SUR stellt keine Gefahr für die Ernährungssicherheit in Europa und der Welt dar!

Die EU-Kommission hat anhand eines ausführlichen Berichts  gezeigt, dass trotz des Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine die Ernährungssicherheit in Europa nicht gefährdet ist. Der Bericht stellt fest, dass Pestizide zwar kurzfristig zu einer Stabilisierung der Erträge beitragen, ihr Einsatz und ihre Risiken jedoch reduziert werden müssen, um mittel- und langfristig schädliche Auswirkung auf die Ernährungssicherheit zu verhindern. Denn die langfristig größte Gefahr für die Ernährungssicherheit ist die Biodiversitätskrise und der Kollaps der Ökosysteme, auf die unsere Lebensmittelproduktion angewiesen ist. Das Bundesinformationszentrum Landwirtschaft sieht unsere Lebensmittelversorgung ebenfalls nicht in Gefahr: Bei Weizen haben die EU und Deutschland einen Selbstversorgungsgrad von mehr als 100 Prozent – das heißt, wir produzieren mehr, als für die eigene Versorgung benötigt wird. 

Auch die globale Ernährungssicherheit hängt nicht direkt von der europäischen Lebensmittelproduktion ab, sondern von anderen Faktoren wie einer gerechten Verteilung von Lebensmitteln, den Preisen in Ländern des globalen Südens oder der Verschwendung von Nahrung. Die EU ist Netto-Exporteurin von Agrarerzeugnissen und Selbstversorgerin bezüglich vieler Agrarerzeugnisse. Europa kann am besten zur globalen Ernährungssicherheit beitragen, indem es zum Beispiel seinen Fleischkonsum und -produktion reduziert oder Biosprit auslaufen lässt.

Die SUR soll die ökologisch wichtigsten Flächen schützen

Die sogenannten sensiblen Gebiete, die von der SUR betroffen wären, können die Mitgliedsstaaten selbst gegenüber der EU in der Common Database on Designated Areas (CDDA) festlegen. Ursprünglich hätten nach einer gewissen Lesart in Deutschland auch Landschaftsschutzgebiete, die circa 25 Prozent aller Flächen ausmachen, miteinbezogen werden können. Dies ging aber selbst vielen Umweltschutzorganisationen und dem grün geführten Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zu weit. Die EU-Kommission hat sich daher in einem informellen Diskussionspapier kompromissbereit bezüglich der Definition sensibler Gebiete gezeigt. Würden Landschaftsschutzgebiete aus der Regulierung herausgenommen werden, würde sich der in sensiblen Gebieten liegende Anteil der Ackerfläche fast halbieren. Auch Sarah Wiener, die federführende Berichterstatterin des Umweltausschusses für die SUR, schlägt in ihrem Dossier eine Lockerung der Definition von sensiblen Gebieten vor. Die Gegner*innen der SUR beziehen sich dennoch immer wieder auf den ursprünglichen Vorschlag der Kommission, anstatt konstruktive Änderungsvorschläge einzubringen.

Umweltschonende Anbaupraktiken sollen auch weiterhin in sensiblen Gebieten möglich sein

Gegner*innen der SUR kritiserten vielfach das ursprünglich vorgesehene Totalverbot von Pestiziden in sensiblen Gebieten. Doch davon ist im aktuellen Dossier von Sarah Wiener keine Rede mehr. Zum Beispiel sollen Pestizide, die im Ökolandbau eingesetzt werden dürfen oder diejenigen, die von der EU als „risikoarm“ definiert werden, in vielen sensiblen Gebieten weiterhin zum Einsatz kommen dürfen. Die Argumente der Gegner*innen stellen also nicht den aktuellen Faktenstand dar. Damit wird eine konstruktive Verhandlung zur SUR zum Schutz von Mensch und Umwelt unmöglich.

Die SUR kann helfen, Abhängigkeiten zu überwinden und so das Höfesterben einzudämmen

Das Höfesterben in Deutschland und Europa ist ein großes Problem. Dies hat vielfältige Ursachen, wie zum Beispiel Bodenspekulation, Massentierhaltung und Konzentration von Groß-Agrarbetrieben. Die SUR-Verordnung sieht lediglich eine Reduzierung von chemisch-synthetischen Pestiziden auf EU-Ebene um 50 Prozent vor. Die Mitgliedsstaaten entscheiden selbst, wie sie die SUR im Sinne aller beteiligten Akteur*innen umsetzen können. Dabei stehen ihnen alle Möglichkeiten einer Reduzierung offen, wie individueller Vertragsnaturschutz, Instrumente innerhalb der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) oder marktbasierte Lösungen wie beispielsweise eine Abgabe auf toxischere Pestizide. Letztere wird bereits mit Erfolg z.B. in Dänemark und Norwegen angewendet.  Eine Reduktion von chemisch-synthetischen Pestiziden hilft Landwirt*innen außerdem, Abhängigkeiten gegenüber Großkonzernen zu überwinden und resilienter zu werden.

Die Alternativen zu chemisch-synthetischen Pestiziden sind längst bekannt

Einige konventionelle Praktiker*innen sowie zahlreiche Studien1,2,3,4,5,6,7,8  zeigen bereits heute, dass eine Reduktion von Pflanzenschutzmitteln für einige Kulturen wie z.B. Mais oder Weizen ohne unzumutbare Auswirkungen auf den Ertrag oder Einkommensverluste möglich ist. 

Dass es auch ohne chemisch-synthetische Pestizide geht, beweisen außerdem Millionen Bio-Bäuer*innen und -Bauern auf der ganzen Welt tagtäglich – mit Erfolg! Sie setzen stattdessen weitestgehend auf Fruchtfolgen, Nützlinge und mechanische Unkrautbekämpfung. Nur wenn die Gefahr eines Ernteverlusts nicht anders einzudämmen ist, dürfen Spritzmittel angewendet werden. Diese sind jedoch meist pflanzlichen oder mineralischen Ursprungs und ihre Dosierung ist oft stark begrenzt. 

Der integrierte Pflanzenschutz (IPS), welcher diese Prinzipien des Ökolandbaus aufgreift und vorrangig auf natürliche und anbautechnische Maßnahmen setzt, ist ein wichtiger Bestandteil der SUR und eine vorbeugende, ganzheitliche Möglichkeit zur Pestizidreduktion im konventionellen Anbau. Bisher ist IPS jedoch nicht verpflichtend und wird daher häufig umgangen.

Durch die Anwendung des IPS und seinen vorliegenden Maßnahmen, wie eine resistente, standortangepasste Sortenwahl, eine breite Fruchtfolge etc., können sich Pflanzenkrankheiten weniger leicht ausbreiten und es werden weniger Pestizide benötigt. Außerdem können durch Strukturelemente wie (Totholz-)hecken oder Blühstreifen natürliche Nützlinge gefördert werden. Des Weiteren haben innovative Techniken wie z.B. eine biologisch abbaubare Mulchschicht ebenfalls das Potential für eine Pestizidreduktion.

1 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0921800911001510
2 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1161030117301892
3 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0308521X23001373
4 https://academic.oup.com/bioscience/article/55/7/573/306755?login=false
5 https://www6.inrae.fr/ciag/content/download/6528/48070/file/Vol70-19-Cellier%20et%20al.pdf
6 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0308521X23001373
7 https://www.nature.com/articles/nplants20178
8 https://link.springer.com/article/10.1007/s13593-013-0144-y

Eine individuelle Ausgestaltung der Pestizidreduktion ist weiterhin möglich

Die SUR legt nur das Ziel und nicht den Weg dorthin fest. Wie die Halbierung des Pestizideinsatzes gelingen kann, ist den Mitgliedstaaten selbst überlassen. Dadurch haben sie großen Spielraum bei der Ausgestaltung und Wahl der Instrumente. Der niedersächsische Weg oder das Biodiversitätsgesetz in Baden-Württemberg bieten gute Blaupausen, wie eine Reduktion bundesweit durch einen Mix aus geeigneten Instrumenten und eine Einbindung von Politiker*innen, Umweltverbänden, Landwirt*innen etc. auf Augenhöhe gelingen kann. In einem offenen Brief zur Bundestagswahl 2021 zeigt das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft bereits eine Reihe von Forderungen auf, deren Umsetzung wesentlich dazu beitragen könnte, das Reduktionsziel national und auf EU-Ebene zu erreichen.