Weg von den Pestiziden – hin zur Agrarwende. Das fordert das »Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft« in seiner aktuellen Kampagne. Ein Interview mit den Vorständen Dr. Niels Kohlschütter und Johannes Heimrath.
Euer Bündnis hat vor der Wahl weitreichende Forderungen zum Thema Pestizidausstieg formuliert. Warum ist dieses Thema so wichtig?
Johannes Heimrath: Pestizide spielen eine zentrale Rolle beim Artenverlust. Zudem sind die meisten in der konventionellen Landwirtschaft verwendeten chemisch-synthetischen Pestizide schon in geringsten Mengen für Mikroorganismen, Insekten und Pflanzen tödlich – und die moderne Entwicklung macht sie immer effizienter darin. Sie vernichten Viren, Bakterien, Pilze, Insekten, Schnecken, Nagetiere und sogenanntes Unkraut. Dabei ist es doch vor allem die Biodiversität, die den Boden robust, widerstandsfähig und ertragreich macht und erhält. Und deshalb sind wir auch davon überzeugt, dass dahinein investiert werden muss, das Bodenleben dauerhaft und in jeder Hinsicht förderlich zu ernähren. Deshalb ist der Boden insbesondere vor chemisch-synthetischen Giften zu schützen. Die Pflanzengemeinschaften sollten auf natürliche Weise gestärkt werden. Zudem müssen die ökologischen Regelkreise weiter erforscht werden. Das ist ein effektiver Weg, die Ernten zu sichern – heute und auch noch für unsere Enkelkinder.
Welche Rolle spielt die unmittelbare Wirkung der Pestizide auf unsere Gesundheit?
Niels Kohlschütter: Man weiß immer noch viel zu wenig darüber, wie Pestizide auf unseren Organismus wirken, vor allem wenn sie über die Lunge aufgenommen werden. Denn dass chemisch-synthetische Pestizide sich über die Luft verbreiten, auch über viele Kilometer hinweg und bis in unsere Städte hinein, haben wir ja in unserer Studie nachgewiesen (1). Und ja, es gibt für alle diese Mittel Zulassungsverfahren, aber diese berücksichtigen lediglich die Wirkungen einzelner Wirkstoffe. Tatsächlich aber haben wir es bei den Pestizid-Rückständen in der Luft fast überall mit einer Kombination verschiedener Pestizide zu tun. Es gibt erste Studien darüber, dass bei der Aufnahme von mehreren Pestiziden gleichzeitig, den so genannten „Cocktail-Wirkungen“, schon bei geringsten Konzentrationen, die bei einzelnen Wirkstoffen als unbedenklich gelten, gesundheitliche Beeinträchtigungen auftreten (2).
Euer Bündnis hat umfangreiche Forderungen aufgestellt, die auch von zahlreichen Wissenschaftler*innen und anderen Organisationen unterzeichnet wurden. Was sind die wesentlichen Punkte?
Niels Kohlschütter: Aus unserer Sicht müssen die Zulassungsverfahren für Ackergifte gänzlich verbessert werden. Zukünftig muss berücksichtigt werden, ob und wieweit die Wirkstoffe sich über die Luft verbreiten – und zwar unter realen Praxisbedingungen. Auch fordern wir, dass die Pestizid-Wirkstoffe, die bereits zugelassen sind, neu überprüft werden. Und es müssen bei den Zulassungsverfahren viel stärker auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Zusammenhänge mit dem Artensterben berücksichtigt werden. Zudem fordern wir, dass die vier am häufigsten in der Luft nachgewiesenen Pestizide mit sofortiger Wirkung in ihrer Anwendung beschränkt werden müssen. Es muss das Vorsorgeprinzip gelten – bis die Stoffe neu bewertet sind, ist das Risiko, das von ihnen ausgeht, absolut zu mindern.
Johannes Heimrath: Ein »Weiter so!« darf es auf keinen Fall geben. Daher fordern wir eine regelmäßige Überwachung von Luft, Böden, Vegetation und Wasser auf Pestizid-Rückstände. Dabei sind ausreichend viele Standorte einzubinden. Zudem fordert das Bündnis die Einrichtung eines Registers, in dem öffentlich dokumentiert wird, welche Pestizide wo überhaupt ausgebracht werden. Nur so kann für alle weiteren Erkenntnisse wirklich ausreichend Klarheit über das Verhalten der Wirkstoffe gewonnen werden.
Niels Kohlschütter: Wir halten auch die Einführung einer Pestizid-Abgabe für eine sehr sinnvolle Maßnahme. Dieses Geld könnte den Umbau hin zu einer ökologischen Landwirtschaft mitfinanzieren und dabei helfen, den „europäischen Green Deal“ auch tatsächlich zu erreichen. Die Abgabe-Erlöse sollten zudem für die Entschädigung von Bio-Landwirt*innen eingesetzt werden, deren Ernte von chemisch-synthetischen Pestiziden aus Abdrift und Ferntransport verunreinigt wurden.
Die Gegenseite wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die flächendeckende Umstellung auf ökologische Landwirtschaft die Weltbevölkerung nicht ernähren könnte. Was ist da dran?
Johannes Heimrath: Das Credo der sogenannten konventionellen Landwirtschaft lautet »Ohne Pestizide geht es nicht!« Ihre Verfechter behaupten, der Verzicht auf Ackergifte würde die Ernährungssicherheit national und global gefährden. Dann gibt es auch die Mär, dass allein grüne Gentechnik den wachsenden Bedarf an Lebensmitteln hierzulande und in der restlichen Welt sicherstellen könne, und genau dafür seien maßgeschneiderte Pestizide unverzichtbar. Dieser Mythos wird täglich von der erfolgreichen Arbeit ökologisch wirtschaftender Bäuer*innen widerlegt.
Niels Kohlschütter: Tatsächlich kam ja der Weltagrarbericht bereits zu dem ermutigenden Schluss, dass eine vollständig auf agrarökologische Methoden umgestellte europäische Landwirtschaft im Jahr 2050 ohne Pestizide und synthetische Dünger rund 530 Millionen Europäer gesund und ausgewogen ernähren kann. Schon heute machen die Bio-Landwirtschaft und Kleinbauern auf der ganzen Welt es ja vor: Sie nutzen Fruchtfolgen, Kompostierung und Humusaufbau und fördern die natürliche Schädlingsregulierung durch Nützlinge. Wissenschaftlich untermauert werden die Leistungen des ökologischen Landbaus vom Thünen Report. Dieser kommt beim Vergleich von 528 Studien zu der Schlussfolgerung, dass für die Lösung der aktuellen Umwelt- und Ressourcenprobleme der ökologische Landbau einen relevanten Beitrag leisten kann. Damit ist er eine Schlüsseltechnologie für eine enkeltaugliche Landwirtschaft. (3)
Glyphosat steht kurz vor der Wiederzulassung. Müssen wir uns da tatsächlich Sorgen machen? Was passiert da hinter den Kulissen wirklich?
Johannes Heimrath: Im Augenblick schießt die Agrar-Lobby in Brüssel aus allen Rohren und legt eine industriefinanzierte Studie nach der anderen vor, die alle beweisen sollen, dass Glyphosat »sicher« sei. Der Ausgang ist ungewiss. Zwar wird sich das EU-Parlament mit der Europäischen Bürgerinitiative »Bienen und Bauern retten« befassen müssen, aber Aktive, die in den relevanten Kreisen verkehren, schicken eher die Euphorie dämpfende Nachrichten. Zu sehr scheinen die meisten Abgeordneten den Mythos vom Verhungern der Menschheit bei einem Versiegen der Ackerchemiequellen zu glauben. Dabei wird bekanntlich ausgeblendet, dass es die Chemielandwirtschaft bis heute nicht geschafft hat, das hungernde Siebtel der Menschheit anständig und gesund zu ernähren. Andererseits hat Emmanuel Macron auf dem Weltkongress der International Union for Conservation of Nature (IUCN) am 4. September in Marseille versprochen, sich während der kommenden französischen EU-Ratspräsidentschaft aktiv »für einen beschleunigten Ausstieg aus der Verwendung von Pestiziden« einzusetzen (4). Wir werden sehen.
JOHANNES HEIMRATH
Öko-Pionier und Mitinitiator des Bündnisses für eine enkeltaugliche Landwirtschaft. Nach einem Pestizid-Skandal startete er die Kampagne »Ackergifte? Nein danke!“
Dr. Niels Kohlschütter
Agrarwissenschaftler mit Schwerpunkt Agrobiodiversität und Gestaltung von nachhaltigen Wertschöpfungsräumen, ist neben seinem Engagement im Bündnis Vorstand der Schweisfurth Stiftung. Die Stiftung engagiert sich seit 1985 für eine zukunftsfähige Land- und Lebensmittelwirtschaft.
Mitmachen und Unterschreiben!
„Weg mit den Pestiziden – hin zu einer Agrarwende!“ so lautet die Mitmach-Kampagne vom Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft. Vier Grundsatzforder-ungen sind das Kernstück der Agenda. Mit Ihnen erinnert das Aktionsbündnis daran, dass der Pestizidausstieg für die Transformation der Landwirtschaft wesentlich ist. Jede und jeder ist eingeladen, die Forderungen mit zu unterschreiben!
Fußnoten:
- Kruse-Plaß, M., Schlechtriemen, U., Wosniok, W. (2020): Pestizid-Belastung der Luft – Eine deutschlandweite Studie zur Ermittlung der Belastung der Luft mit Hilfe von technischen Sammlern, Bienenbrot, Filtern aus Be- und Entlüftungsanlagen und Luftgüte-Rindenmonitoring hinsichtlich des Vorkommens von Pestizid-Wirkstoffen, insbesondere Glyphosat. Auftraggeber: Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft e. V. und Umweltinstitut München e. V. » Abrufbar unter: https://www.enkeltauglich.bio/studie
- Das Gutachten „Zum Stand der Bewertung von Cocktail-Effekten durch Pestizide“ von Dr. Peter Clausing fasst die aktuelle Studienlage zusammen: https://www.enkeltauglich.bio/stand-cocktail-effekte-durch-pestizide
- https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/agraroekologie.html und
Sanders, J., Heß, J. (2019): Leistungen des ökologischen Landbaus für Umwelt und Gesellschaft. Thünen Report 65. https://www.thuenen.de/media/publikationen/thuenen-report/Thuenen_Report_65.pdf - https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2021/09/03/ceremonie-douverture-du-congres-mondial-de-la-nature-de-liucn