Agrarwende: Gemeinsam geht mehr!

Ist es Zeit für eine neue Bürgerbewegung?

Ob Starkregen oder neue Temperaturrekorde: Es ist klar, wir müssen uns bewegen – und auch über das bisherige Maß engagieren, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Für viele Firmen in der Bio-Branche ist ein solches Engagement kein neuer Gedanke. Etliche von ihnen haben ihre Unternehmen in der bürgerbewegten Zeit der 1970er- und 1980er-Jahre gegründet. Sie waren echte Pioniere und haben sich schon damals gegen den Strom gestellt und nach nachhaltigen Alternativen gesucht. Die Unternehmen verbindet nicht nur das Engagement für die ökologische Landwirtschaft, sondern auch der Gedanke, dass man gemeinsam stärker ist. So haben sich zahlreiche Bio-Hersteller, Naturkost-Fachhändler*innen und Organisationen im »Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft e. V.« zusammengeschlossen. Gemeinsam engagieren sie sich für eine fundamentale Wende der Landbewirtschaftung und der Nahrungserzeugung. Doch reicht das? Oder braucht es nicht doch eine neue Bürgerbewegung, die weit über die Bio-Branche hinausgeht und sich gemeinsam mit den Aktivist*innen von »Fridays for Future« für eine umfassende Wende einsetzt? Diese und weitere Fragen haben wir zwei Bündnismitgliedern gestellt. mga

JOHANNES HEIMRATH
Öko-Pionier und Mitinitiator des Bündnisses für eine enkeltaugliche Landwirtschaft. Nach einem Pestizid-Skandal startete er die Kampagne »Ackergifte? Nein danke!“

STEFAN VOELKEL
praktiziert jeden Tag als Bio-Saft-Hersteller eine enkeltaugliche Wirtschaftsweise. Er setzt sich regional und global für eine sozial-ökologische Transformation ein. 

Auf der Biofach, der Leitmesse der Bio-Branche, im Februar 2021 hat das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft die Idee einer neuen Bürgerbewegung erstmals auf einer öffentlichen Veranstaltung ins Gespräch gebracht. Welche Reaktionen gab es darauf und was ist seither in dieser Richtung passiert? 

STEFAN VOELKEL: Die Reaktionen sind durchweg positiv. Denn die Einsicht, dass wir das Engagement für einen Ausstieg aus der Anwendung von chemisch-synthetischen Pestiziden auf ein breites gesellschaftliches Fundament aufbauen müssen, um den Interessen der globalen Chemiekonzerne etwas entgegensetzen zu können, wird von immer mehr Menschen geteilt. Die Klimakrise zeigt uns, dass wissenschaftliche Erkenntnisse allein nicht zu politischen Veränderungen führen, sondern nur, wenn sie an den Tischen der Familien diskutiert werden. So geschehen bei Fridays for Future. Wir haben uns mit Expert*innen von anderen Bürgerbewegungen zusammengesetzt und unsere Erfahrungen ausgetauscht. Die Erkenntnis ist, dass Bürgerinitiativen immer dann ins Rollen kommen, wenn es ein starkes lokales Interesse gibt. Das war beim Thema Atomkraft im Wendland so, und das ist auch so beim Thema Mietenexplosion in Berlin. Bürgerinitiativen lassen sich nicht »top down« planen. Es braucht hierfür immer Einzelpersonen, die unmittelbar betroffen sind und auf Missstände vor Ort aufmerksam machen. 

Wie kann es gelingen, die Bio-Bewegung mit ihren Wurzeln in den 1970er- und 1980er-Jahren mit den Ideen und Ansätzen der Enkelgeneration zusammenzuführen und die gemeinsamen Kräfte zu bündeln?

STEFAN VOELKEL: Wir müssen den Menschen aller Generationen klarmachen, dass eine sozial-ökologische Transformation keine Bedrohung für sie ist – sondern die einzige Chance für die jetzige und alle zukünftigen Generationen. Es geht hier nicht um altes Lagerdenken. Nicht Grün gegen Schwarz. Nicht Jung gegen Alt. Nicht Bio gegen die »konventionell« genannte Landwirtschaft. Wir müssen und wollen auch klarstellen: Die Verursacher*innen für die Misere mit den Pestiziden sind nicht die Bauern und Bäuerinnen, sondern die erwähnten Chemiekonzerne und mittelbar die oft im Handel zu sehende Gier nach dem billigsten Preis für das, was eigentlich das Wertvollste ist, das wir haben: gesunde Lebensmittel. Diese Grunderkenntnis würde schon viele Ressentiments abbauen und die Möglichkeit für neue Bündnisse eröffnen. 

Lokal versus global: Wo verorten Sie eine mögliche Bürgerbewegung?

STEFAN VOELKEL: Im Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft sind bundesweit aktive Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen versammelt. Wir würden eine Bürgerbewegung, die sich die Forderung nach einer sozial-ökologischen Transformation der Landwirtschaft auf die Fahne schreibt, nach Kräften unterstützen und senden entsprechende Signale in die Gesellschaft. Deshalb engagieren wir uns intensiv dafür, das Thema Pestizide und das damit einhergehende Artensterben in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Wir hoffen, die Resonanz in der Bevölkerung so steigern zu können, dass schließlich eine kraftvolle Bewegung für eine enkeltaugliche Landwirtschaft zustande kommt. 

Mit der von Ihnen in Auftrag gegebenen Studie zur Verbreitung von Ackergiften und der Kampagne »Ackergifte? Nein danke!« hat das Bündnis klar Stellung bezogen und durchaus einen provokanten Weg gewählt. Der Name »Bündnis für eine enkel- taugliche Landwirtschaft« weist hier eher auf einen kooperativen, positiven Ansatz, der es evtl. auch bisher konventionellen Landwirten ermöglicht mitzugehen. Welche Richtung verfolgen Sie hier im Hinblick auf eine Bürgerbewegung?

JOHANNES HEIMRATH: Was den systematischen Einsatz der chemisch-synthetischen Pestizide in der sogenannten konventionellen Landwirtschaft angeht, sagen wir ganz klar: »Ackergifte? Nein danke!« Die Bio-Betriebe, die für unsere Bündnismitglieder produzieren, machen ja auch schon lange vor, dass es anders geht. Ein klares Nein zu einem Missstand zu sagen ist keine Provokation, sondern eine bürgerliche Pflicht. Und dass es sich bei der globalen Verbreitung der chemisch-synthetischen Pestizide um einen Missstand handelt, der inzwischen die gesamte Biosphäre bedroht, ist wissenschaftlich erwiesen. Ein klares Ja sagen wir zu einer Landwirtschaft, die sich um eine Rückkehr in die planetaren Grenzen bemüht, die den Boden regeneriert und schützt, die die Biodiversität steigert und erhält, kurz, die unseren Enkelinnen und Enkeln eine Welt garantiert, die sie gesund und sicher ernährt. Dazu braucht es am Ende mehr als den Verzicht auf Pestizide, es braucht einen grundsätzlichen Systemwandel. Damit der gelingen kann, müssen Denkmuster und zur Übernutzung der natürlichen Ressourcen führende Praktiken beendet werden. 

Wir müssen zu einem neuen, dem Lebensreichtum der Biosphäre dienenden Verhalten finden und dieses zur Grundlage der nationalen und internationalen Landwirtschaftsgesetze machen. Das kann nur im vielfältigen Dialog und in komplexen Aushandlungsprozessen geschehen. Deswegen sucht unser Bündnis das Gespräch mit allen Akteuren, die wirtschaftlich mit der Landwirtschaft verknüpft sind und von der Arbeit der Bäuerinnen und Bauern profitieren. Denn alle der Landwirtschaft vor- und nachgelagerten Industrien diktieren über Saatgut, Ackerchemie, Medikamente, Maschinen und den Abnahmepreis schließlich die Anbau- und Tierhaltungsmethoden wesentlich mit. Es muss gelingen, die Bäuerinnen und Bauern aus diesem ökonomischen Zangengriff zu lösen und ihnen ein auskömmliches Wirtschaften im Rahmen zeitgemäßer ökologischer und ethischer Erkenntnisse zu ermöglichen. Dafür ist in der Gesellschaft ein breites Verständnis der landwirtschaftlichen Wirklichkeit nötig, und um dieses schließlich in die Politik hineinzutragen, bedarf es der lauten Stimme der Bevölkerung. Diese Stimme muss Nein sagen zum »Weiter so« und Ja rufen zur dringend gebotenen öko-sozialen Transformation der Art und Weise, wie wir unsere Lebensmittel erzeugen. Dafür setzen wir uns ein.

Dieser Artikel ist zusätzlich erschienen im Magazin „Eve – Das Biomagazin“, Ausgabe 11/2021